Der brutale Doppelmord an Nancy und Derek Haysom 1985 war eine Mediensensation. Die Haysoms waren angesehene Mitglieder der virginianischen Gesellschaft. Der Schuldspruch gegen ihre Tochter Elizabeth und ihren deutschen Freund Jens Söring machte viele sprachlos. Die zwei hatten sich im August 1984 bei einem Orientierungsabend für die Hochbegabtenstipendiaten an der University of Virginia getroffen, er war sofort hingerissen von ihr. Sie war schön, unwiderstehlich, verwegen, das Produkt englischer Boarding Schools, er war jung, naiv, Sohn eines deutschen Diplomaten. Als die Ermittler in ihren Untersuchungen Elizabeth Haysom und Jens Söring immer näher kamen, flohen sie aus Amerika. Die Flucht war ein Abenteuer: Europa, Asien. Am 30. April 1986 wurden sie in England wegen Scheckbetrugs gefasst. Elizabeth Haysom gestand bei ihrem ersten Prozess in den USA die Anstiftung zum Mord an ihren Eltern und wurde zu 90 Jahren verurteilt. Jens Söring kämpfte jahrelang gegen die Auslieferung in die USA, auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Erst als die Amerikaner auf die Beantragung der Todesstrafe verzichteten, wurde er in die USA ausgeliefert. Am 4. September 1990 wurde Jens Söring wegen Mordes zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Seitdem sitzen beide in US-Gefängnissen, nicht weit voneinander entfernt. „Das Versprechen“ ist ein Film über eine große Liebe und einen großen Verrat und über das amerikanische Rechtssystem, das sich selbst nicht mehr zu hinterfragen scheint.
Mehr als drei Jahre lang recherchierten die Filmemacher, fanden erstaunliche neue Beweise, die nie vor Gericht erwähnt oder als unzulässig erklärt wurden. DNA-Tests haben mittlerweile ergeben, dass keine der am Tatort gefundenen Blutspuren Jens Söring zuzurechnen ist, elf Mal wurde sein Antrag auf Entlassung auf Bewährung mittlerweile abgelehnt, seine Haftüberstellung nach Deutschland wurde von einem demokratischen Gouverneur an seinem letzten Tag im Amt bestätigt, aber von seinem republikanischen Nachfolger an seinem ersten Arbeitstag gestoppt.
Der Film stellt Fragen, die bislang von niemandem gestellt wurden. Wem gehören die nicht identifizierten Fingerabdrücke am Tatort? Warum durfte der sexuelle Missbrauch der Tochter durch die Mutter vor Gericht keine Rolle spielen? Wie kann es sein, dass ein befangener Richter über den Fall urteilte? Wo ist das FBI-Protokoll, das geschrieben wurde, aber unauffindbar ist? Der Film zeigt nie zuvor gesehenes Video-Material der Haysom-Prozesse. Und er zeigt, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte. Läuft der wahre Täter dieses brutalen Mordes möglicherweise noch frei herum?
„Ich liebe Dich. Ich liebe Dich jetzt. Ich liebe Dich ewig.
Du wirst immer die wichtigste Person in meinem Leben sein.“
(Brief von Elizabeth Haysom an Jens Söring, 20. Dezember 1984)
Sie war schlank, trug eine violette Jeans und ein T-Shirt, das nicht mehr ganz weiß war. So trat sie in sein Leben, ein bisschen heruntergekommen: Elizabeth Roxanne Haysom. Es war ein Abend im August 1984, ein Orientierungsabend für die Hochbegabtenstipendiaten der University of Virginia. Wie oft hat er in den letzten 29 Jahren an dieses verfluchte Treffen gedacht. Es war der Abend, an dem sein Absturz begann.
Er war jung, naiv, ein bleicher Typ mit großer Brille. Er war sofort hingerissen von ihrer Arroganz, ihren graublaugrünen Augen, ihrem Blick, so gelangweilt, dass er ihn fast zermalmte. Jetzt sitzt er da, mitten in seiner neonlichtgrellen Gefängniswelt. Seit mehr als 29 Jahren ist Häftling # 1161655 eingesperrt. Er hat noch nie ein Handy benutzt, er war noch nie im Internet, er kennt das Grab seiner Mutter nur von zwei Fotos, er hat seit Jahrzehnten keine Baumrinde mehr berührt, kein Steak mehr gegessen. Als er weggesperrt wurde, hatten die Telefone noch Wählscheiben.
Sein Name ist Jens Söring. Staatsangehörigkeit: deutsch. Er ist der Sohn eines deutschen Diplomaten, am 1. August 1966 in Thailand geboren, in Deutschland und Amerika aufgewachsen. Er war ein strebsames Kind, ein eifriger Student, Hochbegabtenstipendiat. Alles schien möglich. Bis er an jenem Abend Elizabeth Roxanne Haysom kennenlernte, die schöne, unwiderstehliche, verwegene Liz.
Sie hat ihn einfach überrannt mit ihren Geschichten. Alles an ihr war besonders, der Vater, ein Stahlbaron, das Stipendium, aus Cambridge. Sie sagte ihm, dass sie von ihrer eigenen Mutter sexuell missbraucht werde, dass sie in einem Internat in der Schweiz brutal vergewaltigt worden war, dass sie mit ihrer lesbischen Geliebten monatelang durch Europa geflohen war und dass sie jetzt endlich wegkommen wolle von ihrer Drogensucht. Nach ein paar Monaten waren sie ein Paar. Jens Söring konnte sein Glück nicht fassen. Ausgerechnet sie hatte ihn erwählt. Für ihn war es die große Liebe. Für sie würde er alles tun.
(Bilder links: Elizabeth Haysom mit ihrem Vater Derek Haysom / Brief von Elizabeth Haysom an Jens Söring, 1984 / Wohnheim von Elizabeth Haysom / Elizabeth Haysom 1993. Rechts: Bild von Jens Söring im Universitätsjahrbuch, Wohnheim von Jens Söring / Jens Söring 1985)
„Ich liebe Dich und vermisse Dich mehr als je zuvor. Du bist meine Definition von Perfektion und Freude. Ich weiß, dass diese Worte nicht ausreichen…“
(Brief von Jens Söring an Elizabeth Haysom, 21. August 1985)
Dann wurden am 30. März 1985 ihre Eltern in ihrem Haus in Lynchburg, Virginia, brutal ermordet. Jens Söring sagt, dass Elizabeth in dieser Nacht zurück ins Hotelzimmer kam, sich auf das Bett setzte und sagte: „Ich habe meine Eltern umgebracht, es waren die Drogen, sie haben es sowieso verdient.“ So erzählt er es. Und ihm sei dann diese Idee gekommen, die sein Leben zerstört hat. Er schlug ihr vor, der Polizei zu sagen, dass er es war. Wie der Held in Charles Dickens‘ Roman „A Tale of Two Cities“, der sein Leben gab für die Liebe. „Etwas Besseres habe ich nie getan“, sagte der Romanheld Sydney Carton auf dem Schafott. Und genau das sagte sich Jens Söring auch. „Etwas Besseres habe ich nie getan.“ Söring lächelt, schaut sich um. Sein Leben ist jetzt das Buckingham Correctional Center in Dillwyn, Virginia, ein Gefängnis-Koloss mitten im hügeligen Land. Mittlerweile findet er, dass er nie etwas Dümmeres getan hat.
Für die Polizei gab es – zunächst – kein Motiv, keine Verdächtigen, keinen Anhaltspunkt. Aber dann kamen die Ermittler dem jungen Paar immer näher. Elizabeth Haysom und Jens Söring beschließen, aus Amerika zu fliehen. Die Flucht wurde zum Abenteuer: Thailand, Europa, gefälschte Schecks. Sie waren jeden Tag, jede Minute zusammen. Von dem Mord sprachen sie nur als „our little nasty“. Es war wie ein Spiel, in dem er mitspielen durfte, der kleine, bleiche, brave Diplomatensohn Jens Söring.
(Bilder links: Ermittler in Loose Chippings / Das Haus, in dem Derek und Nancy Haysom ermordet worden sind im Jahr 1985 / Rechts: Tatortfotos der Polizei)
„..Nachdem was Liz mir erzählt hat, was man in Loose Chippings vorgefunden hat, kann ich nur sagen, dass ich nicht in der Lage bin so etwas zu tun…”
(Brief von Jens Söring an die Ermittler Ricky Gardner und Chuck Reid, Oktober 1985)
Am 30. April 1986 war das Spiel dann vorbei, Jens Söring und Elizabeth Haysom wurden als Christopher P. Noe und Tara Lucy Noe in der U-Bahn in London wegen Scheckbetrug verhaftet. Dass die Liebe auch vorbei war, wusste er noch nicht. Da war Jens Söring 19 Jahre alt, jetzt ist er 50. Weit mehr als die Hälfte seines Lebens sitzt er schon im Gefängnis. Er hat alle Gefängnisphasen durchgemacht: den Schock, den Zorn, den Selbsthass, die Suche nach Gott, die Hoffnung, die Hoffnungslosigkeit.
Am Anfang saß er in England in diesem nach Urin und Schweiß und gekochtem Kohl stinkenden Gefängnis in Brixton. Elizabeth Haysom gestand den Mord an ihren Eltern, widerrief – und beschuldigte ihn. Auch er gestand, wie versprochen. Er glaubte, durch den Vater diplomatische Immunität zu haben. Er dachte, dass er nach Deutschland kommen würde, Jugendstrafrecht, ein paar Jahre Knast. Er gestand, sagt er, um Elizabeth vor dem elektrischen Stuhl zu retten. Sein Leben für das ihre.
Er merkte schnell, dass es jetzt kein Spiel mehr war. Und keine Liebe. Er widerrief sein Geständnis und fing an, um sein Leben zu kämpfen. Monatelang wühlte er sich durch Akten, in denen gegen seine Abschiebung in die USA argumentiert wurde, weil die Hinrichtungsart inhuman sei. Er sah Fotos von verbrannten Haaren auf den Unterarmen Hingerichteter, las Beschreibungen, wie ihre Augäpfel aus den Augenhöhlen quollen und dass es nach gegrilltem Schweinefleisch riecht, wenn ein Mensch auf dem elektrischen Stuhl stirbt.
Dreieinhalb Jahre – er hatte damals immer ein Seil unter der Matratze.
(Bilder links: Gefälschte Ausweise und Schecks / Ermittler Terry Wright und US-Ermittler Ricky Gardner in Richmond, England. Rechts: Bedford County Staatsanwalt James Updike und Ricky Gardner in London)
Am 7. Juli 1989 verkündete der Europäische Gerichtshof, die Androhung der Todesstrafe würde den Tatbestand „Folter oder inhumane oder entwürdigende Behandlung“ erfüllen. Die Amerikaner waren empört – verzichteten aber dann auf die Beantragung der Todesstrafe. Am 12. Januar 1990 wurde Jens Söring an die USA ausgeliefert.
Als er sein Gefängnisleben in Amerika mit einer Papiertüte voller Habseligkeiten antrat, brachte er nicht einen Klimmzug zustande. Heute schafft er 220 Klimmzüge, 320 Liegestützen, 150 Beugestützen, 280 Bauchpressen. Er trainierte mit 72 Cola-Dosen in Kopfkissenbezügen, stemmte Hanteln. Sieben amerikanische Gefängnisse hat er so überlebt. Bevor er seinen weißen, schmächtigen Körper hochtrainiert hatte, wurde er von einem Bodybuilder fast vergewaltigt, im Hochsicherheitsgefängnis traf ihn eine Gummipatrone, als man auf einen anderen Insassen schoss, einer seiner Zellenmitbewohner erhängte sich am gemeinsamen Etagenbett. Er saß wochenlang im „hole“ – Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in der Zelle. Er hat Häftlinge gesehen, die sich von oben bis unten mit Kot beschmiert haben. Söring lebt. Manchmal wundert ihn das selber.
“Ich bin unschuldig”, sagte er, als er am 21. Juni 1990 in Amerika zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt wurde wegen des Mordes an Derek und Nancy Haysom. Elizabeth Haysom bekam 90 Jahre wegen Anstiftung zum Mord. Es ist ein Fall ohne Augenzeugen, ohne Tatwaffe, es gibt Ungereimtheiten, Verfahrensfehler, befangene Richter. Hobbyexperten , die Söring belasteten, durften vor Gericht aussagen, die echten Experten, die ihn entlasteten, nicht. Der Vorsitzende Richter William Sweeney war befreundet mit dem Bruder von Nancy Haysom, er sagte in einem Interview vor dem Prozess, dass Elizabeth überrascht gewesen sei, dass Söring “es wagte”, ihre Eltern umzubringen. Er hielt sich trotzdem für nicht befangen und leitete den Prozess.
(Bilder links: Buckingham Correctional Center / James Updike auf einer Pressekonferenz 1990 (Mitte) / Rechts: Jens Söring bei der Haftüberstellung in die USA und im Gerichtssaal mit Richter Sweeney)
Ein Buch, in dem Sörings Schuld beschrieben wird, wurde noch während des Prozesses vor dem Gericht verkauft. Der Haysom-Fall wurde zum Mega-Event. Der Prozess wurde als einer der ersten live im US-Fernsehen übertragen, es war die tägliche Vorführung des „german bastards“, der er für die lokale Presse von Anfang an war. Auf den stundenlangen Mitschnitten sieht man den jungen Jens Söring, wie er das erste Mal nach all den Jahren Elizabeth trifft. Im Gerichtssaal. Er schaut sie an, zeigt keine Emotionen, als sie aussagt, dass er ihre Eltern getötet hat.
„Ich bin unschuldig“, sagt Jens Söring auch heute noch. Und zählt die Tage. Seit Jahrzehnten. Nach zwanzig Jahren im Gefängnis waren Schock, Zorn und auch Gott verschwunden. Immer quälender wurde die Erkenntnis, dass es nie eine Liebe gab. Nach zwanzig Jahren, sagt Söring, kommt meist der Zusammenbruch. Bei ihm kam die Renitenz.
Ein paar Jahre lang betete er, jeden Tag, dann schrieb er wie ein Besessener Bücher: über Klassiker der mystischen Literatur des Mittelalters, über das amerikanische Rechtssystem, über sein verpfuschtes Leben. Er gab Interviews, schrieb für Zeitungen, in Deutschland gab es immer mehr Unterstützer, der „Freundeskreis Jens Söring“ wurde gegründet, Bundestagsabgeordnete, Anwälte, Journalisten, Lehrer, viele kämpfen bis heute darum, dass er nach Deutschland kommt. Für die Amerikaner spielt das keine Rolle. Es gab immer wieder Hoffnung, aber noch viel öfter gab es Tiefschläge. Als Sörings deutscher Pass auslief, wollte man ihm keinen neuen geben, er wäre staatenlos gewesen, vogelfrei. 1996 wurde beschlossen, in Gefängnissen fremdsprachige Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zu verbieten. Bis heute ist das so. Manchmal sucht er nach deutschen Worten – und findet sie nicht.
(Bilder links: Elizabeth Haysom und Ricky Gardner bei ihrer Aussage im Jens-Söring-Prozess / Staatsanwalt James Updike / Jens Söring und sein Anwalt Richard Neaton; Rechts: Richter William Sweeney, Elizabeth Haysom und Jim Updike mit dem Fußabdruck als Beweismittel)
Es gab ein paar Stunden, in denen Jens Söring dachte, dass er in diesem Leben doch noch mal nach Hause kommt. Am 12. Januar 2010 stimmte der demokratische Gouverneur von Virginia, Timothy M. Kaine, an einem seiner letzten Tage im Amt der Haftüberstellung von Jens Söring nach Deutschland zu. In den lokalen Zeitungen tobten sie, Jens Söring war wieder die deutsche Bestie, Leser wünschten ihm den Tod. Sogar Elizabeth Haysom meldete sich, das erste Mal nach all den Jahren: “Wenn er ahnungslos wäre, wenn er irgendwie unschuldig wäre, würde ich es von den Dächern der Häuser schreien.”
Söring erfuhr am 14. Januar 2010 davon, ihm war schwindlig vor Freude, er fühlte sich, als würde er nach all den Jahren das erste Mal wieder Sauerstoff atmen, er lief seine 28 Runden im Gefängnishof, taumelte vor Glück, redete mit keinem. Die anderen spürten es ohnehin, er war ein freier Mann – er fühlte sich wie einer. Freie Männer fallen auf im Gefängnis.
Es war sein 8695ter Tag in Gefangenschaft, die 208.680te Stunde, die 751.248.000te Sekunde. Er dachte, es kommen nur noch ein paar dazu. In Ulm stand schon eine Gefängniszelle für ihn bereit und Nutella. Ein Brot Nutella – das Paradies.
Am 19. Januar war alles wieder vorbei. An diesem Tag trat der neue Gouverneur von Virginia sein Amt an. Der Republikaner Robert F. McDonnell beschloss zwei Dinge an seinem ersten Arbeitstag: Die öffentlichen Toiletten an den Schnellstraßen von Virginia sollten wieder geöffnet werden. Und er widerrief die Zustimmung Virginias zur Überstellung des Gefangenen Söring nach Deutschland.
(Bilder von links nach rechts: Ehemaliger demokratischer Gouverneur Timothy M. Kaine und sein Nachfolger, der Republikaner Robert F. McDonnell / Jens Söring im Buckingham Correctional Center in Virginia)
Die Haftüberstellung eines Deutschen, völkerrechtlich völlig unspektakulär, ist zum Politikum geworden. Es geht weder um Begnadigung noch um Vergebung, es geht nur darum, wo jemand seine Strafe absitzt. Söring sagt: „2006 gab es 140 000 Lebenslängliche in Amerika, sie werden fast alle hinter Gittern sterben. Die meisten Politiker prahlen damit. Einige sagen, eine lebenslange Haft sei grausamer als eine schnelle, schmerzlose Todesspritze. Sie haben Recht. Gnade bedeutet hier den politischen Tod.”
Sörings amerikanischer Anwalt versuchte monatelang, eine Klage zu führen, um die verhinderte Haftüberstellung nach Deutschland juristisch durchzusetzen. Aber die Klage wurde erst nicht angenommen. Erst blieb sie bei einem Rechtsberater des Gouverneurs liegen. Dann weigerte sich der Generalstaatsanwalt von Virginia, sie entgegenzunehmen. Dann wurde sie abgelehnt. Er sei ein Wahlkampfthema der Republikaner, sagt Söring. Und: „Ich habe viel über Selbstmord nachgedacht. Die große Angst, die ich habe, ist, dass ich dabei versage.”
Jens Söring sitzt da. Nein, sagt er, er denke nicht mehr so oft an Elizabeth Haysom. Andererseits: Kann man an so einem Ort an etwas anderes denken? Seine erste, einzige und möglicherweise auch letzte Liebe. Der Grund, warum er hier ist. Sie sitzt nur 35 Meilen nördlich von hier im Fluvanna Correctional Center for Women in Troy. Jens Söring kämpft weiter. Ein neuer Zeuge hat sich gemeldet, der Elizabeth Haysom gesehen haben will, wie sie mit einem anderen Mann ein blutverschmiertes Auto abgeholt haben soll.
Ein DNA-Test zeigte, dass keine der DNA-Spuren vom Tatort von ihm, dem angeblichen Täter, sind. Es gibt ein FBI-Profil, das verschwunden ist. Und es gibt einen bis heute nicht zuzuordnenden Fingerabdruck auf einem Glas am Tatort. Der Fingerabdruck des Mittäters? Ein nach fast 30 Jahren durchgeführter Abgleich im US-Datensystem ergab keinen Treffer, was zumindest zeigt, dass diese Person nie verhaftet und registriert wurde.
Ende August 2016 schickt Jens Sörings Anwalt Steve Rosenfield eine Petition an den Gouverneur von Virginia, diesmal geht es um die bedingungslose Anerkennung von Jens Sörings Unschuld. Die Petition stützt sich auf neue Erkenntnisse der DNA-Untersuchungen, die eindeutig belegen, dass die am Tatort gefundenen Spuren 2FE und 6FE, von einem Mann sind, Blutgruppe 0 – aber dass dieser Mann nicht Jens Söring ist. Außerdem liegt der Petition ein Bericht des englischen Verhörexperten Andy Griffiths bei, der nach monatelanger Auswertung aller Unterlagen zu dem Ergebnis kommt, dass es signifikante Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Jens Sörings Geständnis gibt. Bei der Pressekonferenz am 24. August wurde auch der Film „Das Versprechen“ gezeigt. Nach Jahren des Schweigens sprach Elizabeth Haysom daraufhin mit der Richmond Times-Dispatch. Während sie Jens Söring weiterhin beschuldigte, ihre Eltern ermordet zu haben, bestätigt sie erstmals in einem Interview den Missbrauch durch ihre eigene Mutter. Jens Söring kommentierte die Tatsache, dass sie ihr Schweigen nach so vielen Jahren brach, damit, dass dies nach den neuesten und ihn entlastenden DNA-Erkenntnissen möglicherweise ihre einzige Chance sei, ihren eigenen Anspruch auf Bewährung nicht zu verlieren.
(Bilder von links nach rechts: Anwältin Gail Ball und Privatermittler Dave Watson (oben) / ehemaliger Ermittler am Bedford County Sheriif´s Department Chuck Reid (unten) / Jens Söring 2014 / Gail Marshall, Tom Elliott und Rich Zorn bei Jens Sörings Anhörung zur Haftaussetzung)
Im Sommer 2016, nachdem die Dreharbeiten zu „Das Versprechen“ abgeschlossen waren, verglich Jens Söring die Ergebnisse der ABO-Blutgruppenbestimmung von 1985 mit den DNA-Testergebnissen von 2009. Dieser Vergleich ergab, dass zwei Männer ihr Blut am Tatort zurückgelassen hatten, von denen keiner Jens Söring gewesen sein konnte. Einer dieser Männer hatte Blutgruppe O, wie Jens, aber mit einem anderen genetischen Profil. Der andere Mann hatte Blutgruppe AB, wie Nancy Haysom, aber mit XY-Chromosomen, da er ein Mann war. Keines der Blutkonserven am Tatort wurde in irgendeiner Weise mit Jens in Verbindung gebracht.
Im Jahr 2017 bestätigten zwei national bekannte Genwissenschaftler diese Befunde: Dr. Moses Schanfield von der George-Washington-Universität und Dr. J. Thomas McClintock von der Liberty-Universität. Sie bestätigten nicht nur, dass zwei andere Männer als Jens Söring ihr Blut am Tatort hinterlassen haben, sondern auch, dass die fraglichen Blutproben rein und unvermischt waren.
Auf der Grundlage der Ergebnisse der beiden Wissenschaftler führten Sheriff J.E. „Chip“ Harding aus Albemarle County, Virginia, und Detective Sergeant Richard Hudson aus Charlottesville, Virginia, Police Department, ihre eigene erneute Untersuchung des Falles durch, die insgesamt über 650 Stunden dauerte. Jeder dieser Beamten gab unabhängige Berichte heraus, die zu dem Schluss kamen, dass Jens Söring Derek und Nancy Haysom nicht ermordet hat und nicht einmal am Tatort anwesend war, als das Verbrechen geschah.
Schließlich gab das Institute of Actual Innocence der University of Richmond School of Law einen Bericht heraus, der auf der zweiteiligen Untersuchung des Falles in den Jahren 2006 und 2017 basierte. Die Direktorin des Instituts, Prof. Mary K. Tate, erklärte, dass Jens Söring nicht verurteilt werden würde, wenn der Prozess heute stattfinden würde, und dass er so bald wie möglich begnadigt werden sollte.
(Abbildung: Vor dem Buckingham Correctional Center in Dillwyn, Virginia, USA, 2016)
Seit 2017 wird der Fall von dem damals amtierenden Sheriff von Albemarle County, Virginia, Chip Harding und dem pensionierten Detektiv Richard Hudson untersucht. Sie kamen zu dem Schluss, dass Söring die Morde nicht begangen hat. Gouverneur Northam führte 2019 eine eigene Untersuchung durch und erklärte, dass seine Untersuchung die Unschuld von Jens Söring nicht stütze.
Am 25. November 2019 beschloss der Bewährungsausschuss von Virginia, Jens Söring und Elizabeth Haysom auf Bewährung freizulassen. Der Bewährungsausschuss begründete die Entscheidung damit, dass beide zum Zeitpunkt der Tat sehr jung waren, lange Zeit im Gefängnis saßen, vorbildliche Gefangene waren und keine Bedrohung mehr für die Gesellschaft darstellten.
Nach 33 Jahren hinter Gittern wurde Jens Söring am 17. Dezember 2019 nach Deutschland abgeschoben und darf nie wieder in die Vereinigten Staaten einreisen.
Elizabeth Haysom wurde am 23. Januar 2020 nach Kanada deportiert.
(Bild links und rechts: Jens Söring mit Beamten der U.S. Immigration and Customs Enforcement’s (ICE) am 12. Dezember 2016;
Bild Mitte: Jens Söring bei der Ankunft auf dem Frankfurter Flughafen Deutschland am 17. Dezember 2019)